Jüdischer Anarchismus ist Teil des vielgestaltigen jüdischen Sozialismus, der vor allem in den Anfängen der Arbeiterbewegung in den 1870er bis 1890er Jahren in Osteuropa und Russland großen Zulauf fand. Die Anhänger Peter Kropotkins oder Michael Bakunins verloren jedoch spätestens während der Oktoberrevolution an Einfluss gegenüber den nun erstarkten kommunistischen und zionistischen Strömungen – und sie wurden in der Sowjetunion wie auch im amerikanischen Exil verfolgt. Dennoch entstanden zahlreiche anarchistische Gruppierungen, aus denen Zeitungsprojekte wuchsen und wieder zerfielen. Sie verfassten Pamphlete gegen Ausbeutung und Unterdrückung aller Minderheiten, übersetzten Marx und Kropotkin ins Jiddische, organisierten Tagesausflüge, schufen Kooperativen, freie Schulen und Kibbuzim.
Die Unterscheidung des jüdischen Anarchismus von der jüdischen Arbeiterbewegung hat ideologische Gründe, ist aber bedeutsam. Besonders an Fragen zumVerhältnis zu jüdischen und allgemeinen religiösen Traditionen und zu Stalins Politik schieden sich die Geister ab 1924. Bereits zu dieser Zeit kam es zu einer religiösen Renaissance des Anarchismus, der sich auf die Anfänge um Claude Henri de Saint- Simon zurückbesann. Hochspannend sind schließlich die Debatten um die Grenzgänger, die sich lange Zeit in säkularen Kreisen bewegt hatten und nun Anschluss an die jüdische Orthodoxie, vor allem bei Chabad- Lubawitsch, suchten.
Lilian Türk, geboren 1980 in Halberstadt, ist promovierte Judaistin mit den Schwerpunkten jiddische Literatur und Religionsphänomenologie. Sie arbeitet am Institut für Jüdische Philosophie und Religion der Universität Hamburg.
Gastgeberin ist Stella Jürgensen.