Im 20. Jahrhundert entsteht eine Vielzahl an Utopien, die durch technische oder ökonomische Projekte die Optimierung der Menschheit imaginieren. Dazu gehören auch der Zionismus und seine Literatur, die eine Lösung der sogenannten „jüdischen Frage“ durch einen eigenen (National-)Staat vorstellt. Dass daneben zahlreiche utopische Texte existieren, die das Judentum gerade als eine Gemeinschaft in der Diaspora konzipieren, ist heute oft in Vergessenheit geraten.
In Geschichte der Möglichkeit untersucht Caspar Battegay diasporische Utopien bei Nathan und Uriel Birnbaum, Ernst Bloch, Alfred Döblin, Joseph Roth, Franz Werfel sowie in amerikanischen Science-Fiction Romanen von Walter M. Miller und Marge Piercy. Diese so unterschiedlichen Texte haben gemeinsam, dass sie eine nicht realisierte Geschichte erzählen, die vom faktischen Geschichtsverlauf verschattet wird. Liest man solche Alternativgeschichten genau, so entfalten sie ausgreifende Reflexionen zum Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit, Literatur und Politik, Utopie und Prophetie, Faktizität und Fiktion. Anhand ausgewählter literarischer Beispiele werden wir an diesem Abend also einer Frage nachgehen, die gleichermaßen in die jüdische Vergangenheit wie in die Zukunft weist: „Was wäre (gewesen), wenn...?“
Caspar Battegay, geb. 1978, ist Privatdozent für Neuere deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Basel sowie Dozent für Kultur und Kommunikation an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Aktuell ist er zudem Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Er hat umfangreich zu jüdischer Literatur und Kultur publiziert. Neben zahlreichen Aufsätzen u.a. Das andere Blut. Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben 1830–1930 (2011), Judentum und Popkultur (2012) sowie (als Herausgeber) Europäisch-jüdische Utopien (2016).
Gastgeber ist Sebastian Schirrmeister