Ein Running Gag macht derzeit in Tel Aviv die Runde. „Ich bin auf der Suche nach Eiern“ ist in Zeiten des Coronavirus zum geflügelten Satz geworden. Eine Nachbarin erzählt, sie habe ihn sogar benutzt, als sie an der Strandpromenade, der Tajelet, von Polizisten erwischt wurde. Die Beamten hätten verständnisvoll reagiert und sie laufen lassen. Zur Tarnung ihres Ausflugs ans Meer hatte sie sich vorsichtshalber demonstrativ eine große Tasche mit dem Aufdruck einer Supermarktkette unter den Arm geklemmt.
Regeln zu missachten, gehört in Israel zum guten Ton. Die schönsten Ausflugsgebiete des Landes befinden sich hinter niedergetrampelten Zäunen. Und der Coronavirus bringt viele Regeln mit sich.
Zum Schutz der Bevölkerung hat die israelische Regierung im Vergleich zu anderen Ländern besonders strikte Direktive erlassen: 100 Meter vom Wohnsitz durften sich die Israelis von Mitte März bis Ende April bewegen, die meiste Zeit hatten nur Supermärkte, Apotheken, Bäckereien, Fischläden und Metzgereien geöffnet.
Strände, Parks, Spielplätze sind abgeriegelt, von der Polizei kontrolliert. Wer sich trotzdem dort aufhält, noch dazu mehr als 100 Meter von seiner Wohnung entfernt, wird von Patrouillen gemaßregelt und verscheucht, angeblich drohen Bußgelder von bis zu 5000 Shekel, umgerechnet mehr als 1000 Euro. Wer zweimal ohne Schutzmaske erwischt wird, muss 200 Shekel zahlen, etwa 50 Euro. Wer außerhalb des erlaubten Radius angetroffen wird, braucht also einen guten Grund.
Was für die Deutschen das Klopapier, sind für die Israelis Eier. Für viele israelische Leibgerichte sind sie wesentlich: das Rührei zum Frühstück, die in Tomatensoße gebackenen Eier im Shakshuka, das hartgekochte Ei im Sabich, dem Pita-Sandwich mit gebratener Aubergine und Tahina. Eier sind das israelische Symbol für die Corona-bedingten Hamsterkäufe, zeitweise äußerst rar und zur Luxusware geworden. Der Betreiber eines Makolet, eines Minimarkts, in Yafo hat seine Eier versteckt und verkauft nur an Stammkunden oder auf hartnäckige Nachfrage. In Facebook-Gruppen tauschen sich Menschen über die Eier-Situation in Supermärkten aus: „Der Shufersal auf der Ben Yehuda hat Eier!“
Israelis sind vieles gewohnt. Raketen aus Gaza, Drohnen aus Syrien oder dem Libanon, den Dauerzustand der Unsicherheit eines Landes, das von Feinden umgeben ist. Einen omnipräsenten Geheimdienst ebenso wie Antisemitismus unter dem Deckmantel der „Israelkritik“. Fast jeder kennt jemanden, der in der Armee verletzt oder getötet wurde.
Fragt man Israelis derzeit nach diesen Ängsten, haben sie meist nur ein resigniertes Schulterzucken übrig. Verschwörungstheorien, die von einem „jüdischen Virus“ fantasieren, lassen den Durchschnitts-Israeli kalt. „Wir sind es gewohnt, dass die Welt uns hasst“, sagte letztens ein Freund. Die Unsicherheit ist hier die Regel, die Krise der Normalzustand, die Israelis routiniert im Aushalten.
Corona aber ist extrem. Nicht etwa wegen der Arbeitslosigkeit, die viele von ihnen getroffen hat, aber eben doch nicht alle. Mehr als eine Million Menschen haben sich in den vergangenen Wochen arbeitslos gemeldet, mehr als ein Viertel der arbeitenden Bevölkerung. Noch immer fahren viele Menschen in diesen Tagen in ihr Büro, weil ihre Firma sich selbst für „systemrelevant“ erklärt hat, oder arbeiten im Home Office.
Die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns werden in ihrer ganzen Wucht erst noch spürbar, gezeigt haben sie sich allerdings nach wenigen Wochen auf dem Wohnungsmarkt. In Tel Aviv, der beliebten Metropole am Mittelmeer, stehen plötzlich WG-Zimmer leer. Nach vier Wochen Corona sind die ersten Mitt-Zwanziger zurück zu den Eltern in ihre Kinderzimmer gezogen. Kellner- und Barkeeperjobs sind weggefallen, eine der wichtigsten Einnahmequellen junger Menschen, die es in die Stadt gezogen hat, auch wenn dies bisher hieß, dass sie zwei oder gar drei Jobs arbeiten müssen, um das Leben hier bezahlen zu können. Nachmieter lassen sich in diesen Tagen schwer finden. 900 Euro für ein Tel Aviver WG-Zimmer, an dessen Wänden die Luftfeuchtigkeit nagt und ein schlechter Klempnerjob den Putz zum Abplatzen bringt, können und wollen sich in diesen Tagen viele nicht mehr leisten. Die Krise hat damit geschafft, was die unerhört teuren Mietpreise in den vergangenen Jahren nicht geschafft haben: die Absurdität der Preise der neuntteuersten Stadt der Welt zu offenbaren. Ob sie auch dafür sorgen wird, dass in Zukunft die Mieten sinken, ist zweifelhaft.
Die Erwartungen an die neue Regierung, die Bevölkerung in der Krise wirtschaftlich angemessen zu unterstützen, sind niedrig. Anfang März, als es mit Corona losging, hatte Israel gerade zum dritten Mal in Folge gewählt. Premier Benjamin Netanyahu hat relativ schnell den Notstand erklären lassen, rund zwei Monate lang wurde das Land und die Krise von einer Notregierung gemanagt, der es in erster Linie darum zu gehen schien, Netanyahu möglichst lange im Amt zu halten, und die ihm bevorstehenden Gerichtsverfahren aufzuschieben. Eine neue Regierung hat das Land erst zwei Monate nach der Wahl bekommen, nach zähen, undurchsichtigen Koalitionsverhandlungen.
Nein, es gibt einen anderen Grund, der Corona für die Israelis unerträglich macht. Es sind nicht die fehlenden Eier.
Der Virus greift etwas an, das noch nie so großflächig angegriffen wurde. Etwas Ur-Israelisches, etwas Geliebtes, das die israelische Gesellschaft braucht wie wenig sonst: die Familie.
Aus Angst, ihre Liebsten zu gefährden, besuchen Kinder ihre Eltern nicht mehr, Enkel nicht mehr ihre Großeltern. Schabbat-Dinner finden nicht mehr statt, Samstagsbesuche bei der Familie sind auf unbestimmte Zeit abgesagt. Ältere Menschen sitzen allein zu Hause, wenn sie überhaupt noch das Haus verlassen, dann nur zum nächsten Supermarkt, ausgerüstet mit Latexhandschuhen und Masken.
Das Kontaktverbot trifft die Israelis hart, manche sagen sogar, sie litten darunter mehr als unter den kriegerischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre. Diese waren in den meisten Städten jenseits der Grenzregionen nicht zu spüren. Corona aber trifft alle Familien im Land.
Per Videochat singen Oma und Opa jetzt Kindergartenlieder für die Enkel, andere winken ihnen hinter geschlossenen Autofensterscheiben zu. Im Fernsehen zeigen sie die Bilder von erwachsenen Töchtern und Söhnen, die an Zäunen von Altersheimen stehen und ihren hochbetagten Müttern oder Vätern hinter den Fenstern zuwinken, Lieder singen, weinen. Viele wissen nicht, ob sie ihre Eltern jemals wieder berühren können.
Familienbesuche, gemeinsames Essen, Berührungen, und sei es nur die Tupper-Box mit vorgekochtem Essen, die Mütter ihren längst erwachsenen Kindern wöchentlich in die Hand drückt – alles wesentliche Bestandteile des israelischen Alltags, in dem das familiäre Zusammensein eine Notwendigkeit ist. Ein starker Familiensinn verbindet die politisch, religiös und ethnisch zersplitterte israelische Gesellschaft, er bedeutet Stabilität, Rückzug und ein Stück Normalität an diesem unruhigen Ort im Nahen Osten, an dem so viele Menschen schon mal Medikamente gegen Angststörungen, Depression oder Schlaflosigkeit genommen haben.
Pessach, das Familienfest und Feiertags-Highlight selbst in säkularen Familien, wurde in diesem Jahr allein oder in der Kernfamilie gefeiert, manchmal auf Video-Plattformen wie zoom. Aus Furcht vor einem Anstieg der Infektionen war es den Israelis am Seder-Abend verboten, ihr Haus zu verlassen. Gekocht wurde trotzdem, Tupper-Dosen mit Fisch, Charosset und hartgekochten Eiern wurden Tage zuvor zubereitet und standen abholbereit vor den Haustüren der Eltern überall im Land.
Und was tut die Politik?
Wer den politischen Zustand in diesen Wochen beschreiben will, muss sich nur vor Augen halten, dass der Gesundheitsminister Yaakov Litzman an Corona erkrankt ist. Oder: Sowohl Premierminister Netanyahu als auch Präsident Reuven Rivlin haben den Seder mit ihren Kindern gefeiert, obwohl diese nicht im gleichen Haus leben. Während dem Rest der Bevölkerung mit hohen Geldstrafen und Festnahmen gedroht wurde.
„Niemand steht über dem Gesetz“ stand auf Plakaten von Demonstranten, die sich im April auf dem Platz vor dem Nationaltheater HaBima und auf dem Rabin-Platz versammelten und – im Abstand von zwei Metern – gegen Netanyahu demonstrierten. Im Schatten der Corona-Krise erlaubt die Politik es derweil dem Inlandsgeheimdienst Shin Bet, die Bewegungen von Infizierten über ihre Handydaten zu überwachen.
Es gibt aber auch Schönes und Unerwartetes in dieser unmenschlichen Krise.
Es gibt derzeit keinen Stau auf dem Highway Ayalon, das kommt sonst nur an Yom Kippur vor, wenn das Land für einen Tag im Jahr still steht. Neulich war die Luft so klar, dass man von Tel Aviv aus den Industriehafen im 30 Kilometer südlich liegenden Ashdod sehen konnte, und im Norden die Häuser von Netanya. Hühner und wilde Gänse stromern über die leeren Straßen von Yafo und im Vorort Ramat Gan, Schakale heulen im Stadtpark Yarkon, Wildschweine trippeln durch Haifa.
Auch die Menschen verändern sich. Nachbarn sprechen plötzlich miteinander, von Fenster zu Fenster und über Balkonbrüstungen hinweg. Menschen aus gegenüberliegenden Häusern spielen Saxophon und Klavier miteinander, Konzerte schallen in Hinterhöfe hinein und erhalten Applaus aus den Nachbarhäusern. Leute verbinden sich mit der Bluetooth-Lautsprecherbox des Nachbarn, um über die Distanz deren Musik zu hören. An roten Ampeln sprechen Menschen plötzlich durch offene Autofenster miteinander, fragen sich, wie es geht. Komplett Fremde fahren ans andere Ende der Stadt, um jemandem, den sie lediglich aus einer Facebook-Gruppe kennen, ein 1000-Teile-Puzzle vorbeizubringen, das sie selbst nicht mehr brauchen. In den sozialen Netzwerken organisieren Menschen die Lieferung von Nahrungsmitteln und Büchern für Senioren, Unterstützung für die Familien von Ärzten und Krankenhauspersonal. Freiwillige helfen ehrenamtlich in Krankenhäusern und provisorischen Zeltstädten aus, wo auf Corona getestet wird.
Und so tun die Israelis auch in dieser Krise das, was sie am besten können: Aushalten. Durchhalten. Weitermachen. Und im Zweifel eben die Regeln missachten, und doch an den Strand gehen. Auf der Suche nach Eiern, versteht sich.
© Sarah Levy
Tel Aviv, 23. April 2020
Sarah Levy (34) lebt seit Ende 2019 im Stadtteil Yafo in Tel Aviv. Sie arbeitet als freie Journalistin für die ZEIT und als freiberufliche Projektmanagerin für die ZEIT-Stiftung. 2019 hat sie das Projekt www.stopantisemitismus.de mit ins Leben gerufen. Für die ZEIT führt sie die Interviewserie „Getrennt befragt: Er sagt / Sie sagt“, in der Paare zur Rollenverteilung in ihrer Beziehung befragt werden (https://www.zeit.de/serie/getrennt-befragt).