In den letzten Jahren tauche ich immer tiefer hinab in die Schatzkammern der deutschen Kultur. Ich lese und schreibe und denke über Fragen von Identität und Zugehörigkeit in Zeiten der israelischen und jüdischen Migration nach Deutschland nach. Zeiten, die im Grunde genommen 1743 mit der Ankunft Moses Mendelssohns in Berlin begannen. Gehört die deutsche Identität nur denjenigen, die einen deutschen Ausweis besitzen? Gehört die deutsche Identität vielleicht auch denen, die sich mit ihr identifiziert haben oder ohne deutschen Pass in diesem Land leben? Ist Deutschsein nicht mehr als eine nationale Frage, vielmehr eine kulturelle Frage, die über das hinausgeht, was der deutsche Pass definiert? Nachdem ich W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn gelesen habe, schaue ich mir Dokumentationen über die Reisen dieses exilierten deutschen Schriftstellers im Osten Englands an. Er benutzte England für eine ausgedehnte Reise in die europäische Kolonialgeschichte, in die Antike, in die Philologie und zu vielen weiteren Orten – die verlassenen Weiten der ostenglischen Küste machten es möglich. Aber gilt Sebald den Engländern als englischer Schriftsteller? Wie andere deutsche Schriftsteller kritisierte auch Sebald Deutschlands Umgang mit der Shoah und allein die Tatsache, dass er sich im Ausland niederließ (ähnlich wie lange vor ihm Thomas Mann, der nach dem Krieg demonstrativ in die Schweiz zog), ist eine Auflehnung gegen die Kultur. So war es ihm möglich, Entwicklungen zu lesen und zu beschreiben, die die Deutschen innerhalb ihrer nationalen Mauern weder sehen noch spüren oder gar verstehen konnten.
Ich lese Lea Goldbergs nachgelassenen Roman Verluste – eine einzige große Liebeserklärung an das Berlin der frühen 1930er Jahre. Und trotz des bitteren Endes kann man erkennen, wie die Geschichte aus tiefer Liebe zu dieser kosmopolitischen Metropole geschaffen wurde, kurz bevor diese in den furchtbarsten Zeiten versank, die die Menschheit je gekannt hat. Als jemand, der sich allmählich mit Deutschland vertraut macht, kenne ich die Schönheit des Harzes, wo Goethe einst schreibend über den Brocken dahinschwebte. Dort schrieb Lea Goldberg das Gedicht „Tannenzweige“, das sie in ihren ersten Gedichtband Rauchringe (1935) aufnahm:
Wie eine leichte, gelbliche Wolke am Berghang
hebt sich meine große Trauer, die aus dem Verlies erblühte.
Ein leises Lachen gärt in meinem Herzen. Merkwürdig nur,
dass ich den Mann an meiner Seite nicht liebe.
Dies waren seltene Momente gehobener Stimmung, die jener Besuch in Wernigerode auslöste. In vielerlei Hinsicht sei die Fahrt in den Harz für Lea Goldberg ein prägendes Erlebnis gewesen, schreibt Giddon Ticotsky im Nachwort zu Verluste: „Sie wurde herzlich von einer christlichen, deutschen Familie aufgenommen, erprobte – zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben – ihr Können im Verfassen eines Werkes in deutscher Sprache [...] und wurde vom Familienvater gelobt [...].“ Goldbergs Buch erinnert mich an Vladimir Jabotinskys Rückblick auf Odessa, kurz bevor die Stadt vom ersten Weltkrieg überrollt wurde. In seinem herrlichen Roman Die Fünf schreibt er:
Wenn ich heute nach dreißig Jahren auf all das zurückblicke, denke ich jedoch, dass das Erstaunlichste bei uns damals die friedliche Verbrüderung der Völkerschaften war. Alle acht oder zehn Volksstämme des alten Odessa trafen sich in diesem Klub, und tatsächlich kam es niemandem in den Sinn, auch nur still für sich zu vermerken, wer was war. Zwei Jahre später sollte sich das ändern, aber zu Beginn des Jahrhunderts waren wir von Herzen einträchtig. Seltsam – zu Hause lebten wir alle, glaube ich, getrennt von Andersstämmigen, besucht und eingeladen wurden Polen von Polen, Russen von Russen, Juden von Juden; Ausnahmen waren relativ selten; aber wir machten uns noch keine Gedanken darüber, warum das so war, wir hielten das unterbewusst lediglich für ein vorläufiges Versäumnis, die babylonische Buntheit des gemeinsamen Forums dagegen für ein Symbol der schönen Zukunft.
Das schreibt ausgerechnet jener General Jabotinsky, der nie eine Miene verzog, der eine Mauer im Nahen Osten errichten wollte und meinte, Ruhe sei Dreck. Der Revisionist Jabotinsky, der in den 1930er Jahren für das zionistische Projekt in Palästina kämpfte, war gleichzeitig in der Lage, derart klagend zu schreiben und sich nostalgisch an etwas zu erinnern, das im Roman in einer Katastrophe endet. Er bewahrte sich in diesem Augenblick trotz allem das kosmopolitische, das diasporische Moment, dessen schiere Existenzmöglichkeit der Zionismus anschließend mit aller Macht zu verdrängen versuchte und noch versucht.
Ich lese Amir Eshels neues und wunderbares Buch Zeichnungen, das auf Hebräisch und Deutsch zwischen Gerhard Richters Graphitzeichnungen aus dem Zyklus 40 Tage wandelt, der mit dem Zyklus Birkenau von 2014 korrespondiert. Ein Konzentrationslager zerfällt in Gedichte, die Zeichnungen tanzen traurig zu den Geigenklängen in meinem Kopf, während ich lese und lese, aber nicht verschlinge, sondern noch ein wenig für morgen lasse. Und auch hier ist es ein Tanz nach der Vernichtung:
Eine Krähe tanzt
im sanften Nachmittagslicht
auf der Kölner Domplatte umher
zwischen leeren Tüten
Flaschen
und Äpfelgerippen
Plötzlich wendet sie ihren Blick
auf die Türme
spreizt ihre Flügel
schwebt hinauf
zu den bunten Fenstern
gleitet die Dächer empor
ihr Körper
verbirgt
einen Flügelschlag lang
das Sonnenlicht
Und in dieser nichtigen Dunkelheit
im Nu
erkennen wir alle Dinge
Die Klänge der Spiegel
splittern
zur Erde
Scherben
zwischen Tag und Nacht
Tag und Nacht
Was sehen wir
zwischen den Schatten
Was werden wir wissen
Die Reichweite der Frage
ist die des Wissens
So gingen wir
eine gelbe Pinie von links
eine gelbe Pinie von rechts
Staub
Staub
Staub
Es ist das krächzendes „Krah, krah“ der tanzenden Krähe, das an den Klang des Zerreißens (hebr. kri’a) gemahnt. Folgendes schreibt die Essayistin und Dichterin Shva Salhoov in ihrem Buch über Kunst und Judentum zur Symbolik der Krähe:
[...] die Krähe verkörpert zugleich eine ironische Figur in der Erzählung vom Neubeginn nach der Sintflut. Die Krähe war der erste Bote, den Noah von der Arche aussandte, um zu sehen, ob das Wasser schwindet und bereits neues Land in Sicht ist. Die Krähe kehrt nicht zu Noah zurück: ‚Es war nun nach Verlauf von vierzig Tagen, da öffnete Noah das Fenster der Arche, das er gemacht hatte, und er schickte die Krähe aus. Die aber flog hinaus, hin und wieder, bis das Wasser von der Erde getrocknet war.‘ Die Krähe kam nicht zurück, sie ging ihrer Wege, gab ihre Mission auf und kehrte nicht wieder. Sie verschwand wie ein ungezähmtes, wildes Tier.
Im Gedicht von Amir Eshel taucht plötzlich der Kölner Dom mit all seiner ziemlich bedrohlichen Gotik auf. Im Gegensatz zu anderen Gedichten, die keinerlei Ortsbezüge enthalten, gibt es hier einen konkreten Ort. Und etwas wird klar. Warum ausgerechnet Köln und sein Dom? Nun, die Antwort hierauf liegt im Entstehungskontext des Gedichts. Eshel schreibt:
Dieser Band entstand aus einem fortdauernden Gespräch. Es begann mit Fragen, die ich mir während der letzten dreißig Jahre zum Werk Gerhard Richters gestellt habe. Dies setzte sich in einem Zusammentreffen mit dem Maler fort, das im Frühjahr 2016 in seinem Atelier in der Nähe von Köln stattfand, sowie in den Gedichten, die ich davor und danach auf Hebräisch und Deutsch schrieb und die hier erscheinen.
Es hat also mit der Begegnung des hebräischen Literaturwissenschaftlers von einer amerikanischen Universität, mit dem deutschen Künstler in dessen Kölner Atelier zu tun. Gehört dieses Buch, das auf Hebräisch und auf Deutsch erschien, auch zur deutschen Kultur? Gehört es zur israelischen Kultur, obwohl Eshel außerhalb von Israel lebt, unter anderem auf Deutsch schreibt und einen solchen Zyklus in Deutschland veröffentlicht? Wenn diese beiden Kulturen in Dialog treten, tun sie es im nahöstlichen oder im europäischen Kontext?
Wem gehört die deutsche Kultur in dieser Zeit? Kann ein jüdischer oder israelischer Dichter, der in gebrochenem Hebräisch, gebrochenem Englisch und gebrochenem Deutsch schreibt und im deutschsprachigen Raum zu Hause ist, als deutscher oder europäischer Dichter gelten? Werden Lea Goldberg und Amir Eshel eines Tages Teil der Lehrpläne an deutschen Schulen? In ihrer Einleitung zur ebenfalls zweisprachigen Lyrikanthologie Zukunftsarchäologie schreiben die Herausgeber Giddon Ticotsky und Lina Barouch:
Aus gutem Grund stehen bei jedem Gedicht beide Sprachen, Deutsch und Hebräisch, einander gegenüber. Es ist, als kehrten die Dichter über den Weg der Übersetzung gewissermaßen in ihr deutsches Zuhause zurück, sodass beispielsweise die Verse Lea Goldbergs klingen, als wären sie von vornherein auf Deutsch gedichtet worden.
Goldberg selbst brachte wenige Jahre nach der Niederschrift von Verluste ihre ambivalente Haltung zu Europa in einem Zeitungsbeitrag zum Ausdruck:
Wir vergessen dich nicht, nicht die Wunden der Liebe und nicht die Wunden des Hasses vergessen wir. Bis zu unserem Tod tragen wir in uns diesen großen Schmerz namens Europa – „euer Europa“, „ihr Europa“… und offensichtlich nicht „unser Europa“, – auch wenn wir ihm gehörten, sehr sogar.
Inzwischen nimmt eine israelische und jüdische Präsenz in der deutschen Kultur immer weiter poetische Form an. Der erste Gedichtband wסrtwוֹrkפn des deutschen Dichters, Übersetzers und Literaturwissenschaftlers Jan Kühne zeichnet sich durch erhebliche Anteile deutsch-hebräischen Schreibens aus. Im Gegensatz zu Amir Eshel macht es Kühne dem Leser alles andere als leicht und platziert die beiden Sprachen – wie schon im Titel des Bandes – nicht neben-, sondern gerade ineinander. Habt ihr das hebräische Wort סופ (Ende) im Buchtitel entdeckt, das zwischen den deutschen Lettern Verstecken spielt? Wer wie ich eine Brille braucht, kann für einen Moment glauben, ein vollständig deutsches Wort zu sehen. Denn der hebräische Buchstabe ס zum Beispiel funktioniert auch als deutsches o. Schauen wir uns Kühnes Gedicht „Ivrit?!“, dessen Live-Vortrag ich bei einer Poesie-Party im Restaurant Jaffo in Berlin-Mitte erleben durfte, einmal genauer an:
Du redest Ivrit?
לֹא יָדַעְתִּי אָז לָמָּה,
reden wir nicht gleich
עִבְרִית בִמְקוֹם שֶאֲנִי
mühe mich ab mit dem
גֶּרְמָנִית וְכָל שְׁבִירוֹתֵיהַ
der Zunge?!
Also wirklich
הָיִיתָ יָכוֹל לְהַגִּיד לִי יוֹתֵר
früher und dann wäre alles
קְצָת יוֹתֵר פָּשׁוּט
gewesen. Aber ist ja
עַכְשָׁיו לֹא משנה. אנחנו
verstehen uns auch
ככה, nicht wahr?
Das Gedicht geht noch weiter, aber ich beschränke mich hier auf einen Teil des Spiels, das sich im Zwischenraum zwischen dem Deutschen und dem Hebräischen ereignet. Das Spiel verzaubert mich und führt mich hinters Licht. Als ich ihn die Gedichte lesen hörte, spürte ich, wie mein Gehirn angestrengt übersetzte und die Übersetzung fein säuberlich neben das mir bekannte Hebräisch legen wollte. Israelischen Lesern fehlt jede Grundlage, das Deutsche zu verstehen, es sei denn, in ihnen schlummern noch Spuren des Jiddischen oder Deutschen der Großeltern. Kühne fragt zu Beginn: Wenn du Hebräisch sprichst, warum hast du das nicht gleich gesagt, warum hast du mir das schwere, zungenbrecherische Deutsch zugemutet? Als Deutscher imaginiert Kühne für einen Moment ein Dasein außerhalb der deutschen Sprache, so wie jener (hebräische) Migrant, dessen Körper plötzlich neue Organe entdeckt, die da in ihm wachsen, sich aber nicht organisch mit den Regeln der korrekten deutschen Standardsprache verbinden. (Ich erhebe Einspruch gegen die Behauptung, dass korrekte Sprache die einzige Möglichkeit ist. Denn gebrochene Sprache ist auch eine Möglichkeit der Sprache, genau wie korrekte Sprache.)
[...]
© Mati Shemoelof 2019
Mati Shemoelof wurde 1972 als Sohn einer aus Bagdad stammenden irakisch-jüdischen Familie in Haifa geboren und lebt seit 2013 als freier Schriftsteller in Berlin. Er ist eine der führenden Stimmen arabischer Juden und war Mitbegründer der Guerilla Culture-Bewegung in Israel. Sein vielfältiges literarisches Werk aus Gedichten, Theaterstücken, Essays und Belletristik ist mehrfach ausgezeichnet worden, u.a. 2006 mit dem Israelpreis für das beste Lyrikdebut. 2018 produzierte der WDR sein utopisches Hörspiel Das künftige Ufer über eine „Levantinische Union“ im Nahen Osten. Literarisch praktiziert wird eine solche jüdisch-arabische Union im Projekt Anu: Jews and Arabs Writing in Berlin, das Mati 2017 gemeinsam mit Hila Amit Abas in Leben gerufen hat.
Der vollständige Essay erscheint demnächst im Online-Magazin dis:orient (www.disorient.de)