Dieser Text setzt da an, wo alles Anfang März für mich endete, oder begann.
Dass seitdem viel passiert ist, brauche ich nicht zu erklären. Die letzten Monate waren auch für mich von Ängsten geprägt, meinen eigenen Ängsten und jenen der Menschen, die mir wichtig sind. Von rationalen und weniger rationalen Gedanken und Handlungen, dem Verschicken von Calciumpäckchen an Freund*innen zur Stärkung des Immunsystems.
Zugleich: die Hoffnung, dass der Lockdown auch die Möglichkeit struktureller Veränderungen in sich birgt. Eine über Berufsgruppen hinweg wachsende Solidarität, ein Vorstoß in Richtung bedingungslosem Grundeinkommen.
Ich werde also von einer Begegnung Anfang März in Nethania (Israel) erzählen.
Dort traf ich Azim. Mein Vater hatte meinen Recherchen zu ihm lange hartnäckig widersprochen. Er behauptete, Azim, ein Freund seiner Mutter, also meiner Oma, sei längst verstorben.
Azim ist in meinen Erinnerungen eine Art usbekischer König, sagenumwoben. Warum, weiß ich ehrlich gesagt nicht genau. Es gibt Fotos da tragen meine Schwester und ich rosafarbene Kleider mit großen Blumenmustern. Auf einem Foto steht meine große Schwester auf einer Schaukel im Garten unserer Datscha und ich daneben, ich habe Augenringe auf dem Foto, meine Schwester schaut direkt in die Kamera. Ich denke, diese Kleider waren ein Geschenk von Azim. Und es gibt Fotos, auf denen wir beide eine Art Bomberjacke tragen, ich in rot, meine Schwester in dunklem violett, und wir sind bereits in Deutschland, und stehen in einem Wald. Es sieht wie Herbst aus, und die Jacken, die uns wärmen, sind auch ein Geschenk von Azim, denke ich.
Dann gibt es noch Erzählungen, wie meine Schwester zusammen mit unserer Oma mit dem Zug von Moskau nach Taschkent fahren, um Azim und seine Familie zu besuchen. Meine Schwester erinnert sich immer noch an diese Reise und ich erinnere mich an die Bilder aus ihren Erzählungen, und daran, dass ich neidisch war, weil ich nicht mitdurfte.
Ich durchforste das Netz, stoße auf die Websites diverser Unikliniken und eines Startups, bei denen Azim geforscht und gearbeitet hat, rufe dort an. Versuche, zu erklären, wer ich bin, in welchem Verhältnis ich zu Azim stehe. Es können mir nur wenige Informationen gegeben werden, aber bei aller Diskretion höre ich ein Lächeln auf der anderen Seite der Leitung. Ich bin weiter motiviert, Azim zu finden. Es gelingt mir, mit seiner Tochter in Kontakt zu treten.
Sie ist Goldschmiedin und wie ich bald herausfinden werde, werden mich Teile ihrer Collection an Star Wars erinnern und wir werden zusammen in ihrer Werkstatt rauchen.
Sie hat ihren Namen geändert, woran sich mein Bruder erinnerte, und tatsächlich auch an welchen: Nikita.
Ach, Anetschka, warum die Aufregung, er lebt und ist bei bester Laune, warum rufst du ihn nicht direkt an?! Und übrigens, wir erinnern uns immer an dich, es folgt eine Anekdote, wie ich als Kleinkind bei einem Besuch Azims unter dem Küchentisch hervorkroch und was ich dabei sagte, als er sich ein Stück Tandir Brot in den Mund schob.
Also wir erinnern und sehr oft an Sie, Anetschka, komm doch in meiner Boutique vorbei, ich wüsste zu gerne, wer du geworden bist.
Und so kommt es, dass ich Azim und seine Frau, die Schauspielerin Sewtlana Norbaeva, im März 2020 endlich treffe.
Der folgende Text, ein Auszug aus dem Gespräch mit Prof. Dr. Azim Turdiev, ist Teil meiner Arbeit: Fühlen Sie sich wie Zuhause und vergessen Sie dabei nicht, dass Sie zu Gast sind. Für das Projekt suche ich anhand der Geschichten von Familienangehörigen aus mehreren Generationen, deren Freundinnen und Bekannten, Verflechtungen persönlicher Lebenswege mit den Geschehnissen des letzten Jahrhunderts bis heute zu erforschen. Nach und nach entsteht eine Sammlung von Gesprächen, die ich transkribiere und aus dem Russischen ins Deutsche übersetze.
Azim
Ich verteidigte meine Dissertation zu tropischen Erkrankungen und begann, mich mit Blut zu beschäftigen.
Blut, das ist ein eigener Lehrstuhl an der Universität, stark verbunden mit der Biologie.Wir beschäftigten uns mit Blut in der Evolution. Blut und Blutbildung der Wirbelsäulentiere. In der Norm und auch unter Bestrahlung und so begannen wir das Blut kennenzulernen:Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel, Säugetiere, das ist eine Klasse der Wirbelsäulentiere.Alle Beteiligten, also alle Mitarbeiter schrieben eine Doktorarbeit, und ich machte eine Habilitation, zu einem Problem, das ich untersuchte.
Wir begannen, herauszufinden, warum Schildkröten Bestrahlungen gegenüber so resistent sind.
So begannen wir, die Schildkröten zu erforschen.
Für einige Zeit gingen wir jeden Frühling los und sammelten Schildkröten auf den Feldern, die wir ins Labor brachten.
Eines Morgens, es war in der Nacht sehr kalt gewesen, war die Erde gefroren, so dass die Schildkröten sich nicht eingraben konnten. So lagen, sie erfroren auf der Erde. Ein Laborant brachte an die zehn solcher Steine und legte sie auf den Boden, alle gefroren und unbeweglich.
Nach etwa eineinhalb Stunden fingen sie an, sich zu bewegen, sogar, sich umzudrehen!
Eine blieb so, sie blieb tot, alle anderen überlebten.
Ein Mensch würde niemals etwas Derartiges überleben. Alle menschliche Materie, die gefroren wird, muss sehr komplex umgewandelt werden, alles Wasser an die 85,90 %, in den Zellen, muss ausgetauscht werden, mit Glycerin und so weiter, es sind sehr komplexe Vorgänge
bis etwas überhaupt eingefroren werden kann und dann muss es auch bei sehr geringen Temperaturen gehalten werden.
Und die Schildkröten konnten das einfach so!
Stell es dir so vor: Alle Eiskristalle werden im menschlichen Körper zu den schärfsten Messern, die sofort das Gewebe zerschneiden.
Sie hatten, aus der Sicht eines Menschen, sehr viel Anormales, ich werde nicht alles erzählen, es sind zu viele dieser Eigenschaften.
Aber eines noch:
In einem luftleeren Raum kann ein Mensch zwei bis drei Minuten überleben. Schildkröten können bis zu fünf Stunden im luftleeren Raum überleben!
Warum, woran das alles liegt? Was sind die Gründe dafür?
Anstelle aus der Luft können sie den Sauerstoff aus der Glykolyse holen.
Sie sind sogar ins Weltall geflogen.
Etwa zwanzig Schildkröten wurden in einen Container gesetzt und dieser mit einer Rakete in den Kosmos geschossen.
Dort blieben sie einen Monat, ohne Nahrung, selbstverständlich.
Ein Monat. Bei der Landung unterlief ihnen ein Fehler. Die Kiste fiel ins Meer, in den Ozean. Dort waren sie noch zwei weitere Monate, bis sie gefunden wurden.
Und jetzt stell dir vor, einen Monat im Weltall, zwei Monate auf dem Meer. Keine der Schildkröten war gestorben.
Früher war bekannt, dass sie besondere Tiere sind, zum Leben begabte.
Piraten zum Beispiel fischten sie, wussten von den Besonderheiten der Schildkröten und hatten sie an Bord. Sie mussten sie nicht füttern, über mehrere Monate nicht, und aßen eine, von Zeit zu Zeit, wann immer sie eine brauchten. Die anderen blieben am Leben, sie mussten sie nicht füttern und ihnen auch kein Wasser geben.
Schildkröten sind also absolut unikale Tiere.
Also fingen wir an, uns mit ihnen zu beschäftigen und wir untersuchten die Mechanismen, die sie so resistent machen. Zu diesen Mechanismen gehörte ein Extrakt, ein Auszug aus der Milz. Dieses Extrakt entnahmen und trockneten wir, und gaben es Mäusen, die in tödlichen Dosen bestrahlt wurden. Von denen, denen wir es verabreichten, überlebten bis zu 70 %. Ohne dieses Extrakt verstarben die Mäuse zu 100%.
Also ist dort etwas. Und was genau ist ein Extrakt?
Wenn du Boullion kochst, dann ist das auch ein Extrakt, bestehend aus Eiweißen, Fetten, Kohlenhydraten und so weiter. Deswegen mussten wir versuchen, herauszufinden, was dieser wirkende Anfang ist. Dafür mussten wir diese Dinge auseinander nehmen, die Fette einzeln, die Eiweiße einzeln.
Und wenn du an die Eiweiße kommst, das ist dann Biochemie, dann gibt es verschiedene, und eine Methode diese nach einander zu reinigen.
Stell dir vor, jetzt hast du das Eiweiß herausbekommen, bestehend aus fünf Fraktionen.
Jede der fünf Fraktionen musst du reinigen und auf Radioaktivität prüfen. Eine Fraktion den Mäusen einfügen. Und wieder prüfen. Dann die nächste. Das dauert sehr lange,
Jahre.
Das Mittel muss komplett sauber sein, es gibt biochemische Methoden, die ermöglichen, es in diesen Zustand zu bringen.
Zu dem Zeitpunkt bin ich schon nach Israel gekommen. Und hier haben wir die Struktur dieses Eiweißes herausgefunden, dieses Peptides.
Wenn wir etwas essen, zersetzt es der Körper in Peptide.
Die Struktur besteht aus Aminosäuren, das sind die Bausteine. Wenn wir etwas essen, wird das Eiweiß im Magen zu Aminosäuren auseinander genommen, saugt sich ein ins Blut, dann in die Gewebe, und synthetisiert sich mit seinen Bausteinen in unsere Eiweiße.
Wir haben unser Ergebnis patentiert.
Wir lernten den Stoff künstlich zu synthetisieren. Von dem Moment an benötigten wir die Schildkröten nicht mehr.
© Anna Schapiro
Lektorat: Regina Menke
Foto © Valentin Lutset
Aus: Fühlen Sie sich wie Zuhause und vergessen Sie dabei nicht, dass Sie zu Gast sind von Anna Schapiro
Weitere Auszüge können nachgehört werden unter:
www.youtube.com/watch?v=JvotpgqY1XM
Zu sehen ist eine 1,5 stündige Lesung von Anna Kim und Marica Bodrožić, im Rahmen des LCB-Festivals Und seitab liegt die Stadt, wo Anna Schapiros Essay ab Minute 1 bis Minute 6 zu sehen ist.
www.adkdw.org/de/article/2110_exophony
Zeigt eine gemeinsamen Lesung von Anna Schapiro und Max Czollek, an der Akademie der Künste der Welt (ADKDW), im Rahmen von Exophony: How Do You Language ab Minute 22, ist ein weiterer Ausschnitt aus Fühlen Sie sich wie Zuhause und vergessen Sie dabei nicht, dass Sie zu Gast sind zu hören.
Anna Schapiro, wurde in Moskau geboren und wuchs in der hessischen Provinz auf. Sie lebt heute in Berlin wo sie schreibt und bildnerische Werke schafft.Sie ist Gründungsmitglied und Mitherausgeberin der Zeitschrift Jalta - Positionen zur Jüdischen Gegenwart und Mitglied im Ministerium für Mitgefühl und seit März 2020 Beirat der KunstNothilfe.Sie studierte übergreifendes künstlerisches Arbeiten an der HfKB Dresden bei Prof. Ulrike Grossarth, bei der sie auch Meisterschülerin war. Sowie Bildhauerei an der Universidade do Porto, Portugal. Danach nahm sie das Studium der Jüdischen Studien am European Institute for Jewish Studies in Stockholm auf. Anna Schapiro lehrte an der Muthesius Hochschule Kiel. Ihre Arbeiten wurden unter anderem im Kunsthaus Dresden, im Museum für zeitgenössische Kunst Wroclaw Museum, dem Museum Vilha Velha, Vila Real, Portugal, der GFLK Halle Süd, Tölz sowie im Centrum Judaicum, Berlin gezeigt.