Ich bin nicht sonderlich religiös aufgewachsen, aber das ist in der Sowjetunion kaum jemand. Unsere Familie hat zwar alle Feiertage gefeiert, nur ohne die religiösen Komponenten. Das Judentum glich einer kulturellen Performance, allerdings durchaus einer, die wir ernst nahmen. Unsere Nachbar*innen zelebrierten die islamischen und die christlichen Feiertage und mitunter kam ich bei allem durcheinander. Doch die Feste waren schön und wahrscheinlich lag es daran, dass die Zeiten damals so schwierig waren. Immerhin schrieben wir die späten 80ger und die frühen 90ger des letzten Jahrhunderts in Aserbaidschan, einer eher dunklen Zeit voller Gewalt und Nöten aller Art. Nach unserem Umzug nach Deutschland haben wir allmählich das Feiern aller Festtage außer den Geburtstagen eingestellt. Das war eine schleichende Entwicklung, jedes Jahr gab es weniger von allem und irgendwann feierten wir überhaupt nichts mehr. Ich glaube, das lag daran, dass meine Eltern müde waren und, dass unsere nächste Familie, die Tanten und die Onkel, die Cousins und die Cousinen sich über die ganze Welt verstreut hatten. Alleine zu feiern macht eben nicht allzu viel Sinn.
Ich selbst fing erst wieder vor ein paar Jahren ein paar traditionelle Elemente wieder anzuführen, als meine Kinder älter wurden und in der Lage waren aktiv teilzunehmen. Ich war fest entschlossen ihnen Traditionen mitzugeben und zur Not würde ich selber welche kreieren.
Allerdings hatte ich vergessen, dass meine Kinder in Deutschland aufwachsen – man könnte meinen, in einem laizistischen Land, doch die Realität sieht anders aus. Im Kindergarten werden alle christlichen Feiertage begangen und nur diese und das obwohl es kein christlicher Kindergarten ist. Meine Kinder kennen Weihnachten, den Nikolaus und den Osterhasen und sie fordern diese auch ein. Anfangs war ich verwirrt: Es gab zu viel von allem: Christkind, Weihnachtsmann und dann auch noch der Nikolaus – wozu? Und die Wichtelmänner? Mittlerweile wurde ich aufgeklärt.
Genau wie ich wachsen auch meine Kinder nicht religiös auf, zwar vermittele ich – und ein befreundeter Rabbi - ihnen gewisse Grundkenntnisse, doch die Kinder möchten trotz all unserer Mühe einen Adventskalender und Kekse, und ich habe ehrlich gesagt vor beidem Angst. Ich könnte auch sagen „ich sei irritiert“, doch das wäre eine Untertreibung. In der russischen Presse wurde ich vor Kurzem als „assimiliert“ bezeichnet, es ging zwar nicht um die Religion, sondern lediglich um mein „Russischsein“, doch der Vorwurf berührte mich unangenehm. Dabei habe ich in Russland gerade einmal fünf Monate meines Lebens verbracht und unter meiner „Nationalität“ verstand man bei meiner Geburt in der Sowjetunion das Judentum, aber das ist schon wieder eine gänzlich andere Geschichte. Schuldig fühlte ich mich dennoch. Nicht der Assimilation wegen, sondern, weil Weihnachten meinen Kindern so viel attraktiver erscheint als Channuka.
Mein Unbewusstsein wollte einen Sieg über Weihnachten davontragen. Ich bin eine ziemlich gute Konditorin, meine Desserts und Kuchen sehen immer ein wenig hässlich aus, aber am Geschmack gab es bisher nicht allzu viel auszusetzen. Nach langen Diskussionen mit Kleinkindern gab ich nach und beschloss mit ihnen Plätzchen zu backen. Ich bin selten in meinem Leben so gescheitert. Das ein wenig ehrgeizige Rezept von Susan Sprungen aus der New York Times sah in meiner Interpretation aus, wie eine vormals wunderschöne Vase, die von einem Schwertransporter überfahren wurde und danach in einem Teich aus missratenem Zuckerguss versenkt wurde. Das muss die berüchtigte „Jewish Guilt“ gewesen sein. Diese begleitet mich bei jedem einzelnen Feiertag, egal ob ich ihn feiere, oder nicht. Womöglich ist sie auch dafür verantwortlich, dass ich bis heute kein einziges Blech Kekse zustande gebracht habe. Die New York Times veröffentlicht indessen Tag für Tag unglaublich aussehende Keksrezepte.
Dabei feiern wir Silvester als Kompromiss streng nach der russischen Tradition – an Silvester gibt es einen Weihnachtsbaum, ein gutes Essen und Geschenke, die der Weihnachtsmann den Kindern unter das Kopfkissen legt. Die Begriffe im Russischen – ich spreche Russisch zu den Kindern – sind unverfänglicher: der Weihnachtsbaum ist nur die „Tanne“ und „Weihnachten“ übersetzte ich nicht gänzlich korrekt mit „Neujahr“. Statt „Kevin alleine Zuhause“ und „Dinner for one“ läuft im Fernsehen „S lechkim parom“, eine ziemlich gute Verwechslungskomödie, bei der ich jede Zeile mitsprechen kann. Ich hatte lange Vorbehalte gegenüber Weihnachtsbäumen, es hörte erst auf, als ich ein Weihnachtsfest in Dubai verbracht hatte. Vor der Reise dachte ich, dass es schön wäre, Weihachten zu entkommen. Endlich mal ein Jahr ohne die Dekorationen und einer toten Zeit, in der alle zu Hause sitzen. Es war natürlich lange vor diesem Jahr, in dem wir alle kaum etwas anderes gemacht haben. In Dubai war allerdings alles voller Weihnachtsschmuck, ich glaube ich habe noch nie in meinem Leben so viele Weihnachtsbäume und Weihnachtsmänner gesehen, wie dort. Ich habe sogar eine Familie aus Saudi-Arabien getroffen, die nach Dubai gekommen war, um einen Weihnachtsbaum aus Plastik zu kaufen und diesen wieder nach Saudi-Arabien zu schmuggeln. Nicht weil sie Christen waren, sondern weil sie ihn schön fanden. Nach diesem Urlaub war mein Verhältnis zum Weihnachtsschmuck ziemlich entspannt. Ehrlich gesagt, liebe ich es mittlerweile einen Weihnachtsbaum zu schmücken. Dies kam aber erst in den letzten Jahren – eigentlich stellen wir erst seit letztem Jahr einen Baum auf. Natürlich zum Neujahr, die Schulgefühle sind natürlich nicht gänzlich verschwunden.
Dieses Channuka feiern wir nach allen Regeln, dennoch erscheint es mir nicht natürlich und auch deswegen fühle ich mich schuldig. Traditionen entstehen nur allmählich. Meine Kleinfamilie ist gerade erst noch dabei sie zu entwickeln, manchmal stolpern wir über unsere Erfahrungen, manchmal hinterfragen wir den Sinn des Ganzen und zuweilen bin ich einfach zu faul. Traditionen sind ein wichtiger Bestandteil unserer Identitäten, sie gehören zu unseren frühesten Erinnerungen und formen unsere Weltbilder. Nicht alles an ihnen ist gut, aber man kann ihnen nicht entkommen. An Festen sollte man glücklich sein, jedes Fest sollte gelungen sein und alle zufrieden, doch das passiert aber nur in den seltensten Fällen. Meistens endet alles mit einer herben Enttäuschung. Manchmal mit einer großen, zuweilen nur mit einer winzigen. Meinen Eltern und mir erschien es in den ersten Jahren in Deutschland einfacher, den Druck gar nicht erst aufzubauen.
Dieses Jahr ist alles anders, alle Politiker*innen redeten in einem fort vom Weihnachten, als ob es nichts anderes gäbe, Corona etwa, und schlossen alle Menschen, denen Heilig Abend nicht per se etwas bedeutet vom Diskurs aus. So sehr, dass selbst die Pandemiebekämpfung an Weihnachten ausgesetzt werden könnte. Dieses Jahr war nicht leicht und das nächste wird nicht unbedingt besser. Ein wenig Licht ist in diesen Tagen genau, was wir brauchen und da gibt es keinen besseren Feiertag als Channuka.
© Olga Grjasnowa 2020
Foto: © Valeria Mittelman
Olga Grjasnowa, geboren 1984 in Baku, Aserbaidschan. Längere Auslandsaufenthalte in Polen, Russland, Israel und der Türkei. Für ihren vielbeachteten Debütroman "Der Russe ist einer, der Birken liebt" wurde sie mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis und dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihr "Gott ist nicht schüchtern". Der Roman wurde zum Bestseller und hat sich 50 000 mal verkauft. Olga Grjasnowa lebt mit ihrer Familie in Berlin.