In Israel steht Pessach vor der Tür, und vorher noch – am 23. März, vier Tage vor dem Fest – sind bei uns die Wahlen. Wieder bieten sich die Politiker feil, wieder versprechen sie, uns in das Land ihrer Verheißungen zu führen, und das Ritual gehört schon zum jüdischen Festkalender: In den letzten beiden Jahren werden wir jetzt zum vierten Mal um unsere Stimmen gebeten.
Wenn es den Juden nicht besonders gut geht, nehmen sie Zuflucht zum Humor (und wann geht es ihnen schon besonders gut?) Die israelische Politsatire steht in hoher Blüte, und ich kann leider nicht zeichnen, aber gerne würde ich einem Karikaturisten dieses Bild in die Feder diktieren:
Endlos viele kleine schwarze Punkte auf hellem Grund, im Vordergrund zwei Männer in weißen Gewändern, die Wanderstöcke in der Hand. Sie sind stehengeblieben, einer der beiden hat den Stock erhoben und deutet auf die schwarzen Punkte.
„Hör, Aron“, sagt er zu dem Mann neben ihm, „ich habe keine Ahnung, wo es lang geht. Sag diesen Idioten, wir müssen noch eine Weile in der Wüste bleiben, im Gelobten Land herrscht eine Epidemie.“
Moses ist der einzige Mann, der auf dem Bild ein Gesicht hat – es ist das Gesicht Netanjahus. Wer seinen Bruder spielt, verrät die Karikatur nicht. Nur Arons Rücken ist zu sehen, und das ist richtig so. Denn die Propagandatrommel Netanjahus mag rühren, wer will: Es sind nur seine austauschbaren Sprachrohre.
Die universale Krise
Humor ist, wenn die Juden trotzdem lachen – wie aber steht es im Frühjahr 2021 um ihren Staat?
Diese Zeilen entstehen vor dem 23. März, und auf die Wahlergebnisse kann ich daher keinen Bezug nehmen. Darum geht es hier auch gar nicht. Was immer die Wahlen erbringen mögen – sie können die Krise des Landes nicht lösen. Im Gegenteil: Das nun zum vierten Mal sich wiederholende politische Ritual ist nur ein Symptom der Krise, und der Staub, den es aufwirbelt, verstellt den Blick auf ihre tiefer liegenden Gründe.
Der Nahe Osten ist schon immer ein Krisengebiet gewesen, doch spätestens seit einem Jahr – seit dem Coronajahr – erweist die Krise sich als ein globales Phänomen. Von Land zu Land verändert sie ihre Form, und ihre gemeinsamen Nenner herauszuarbeiten, muss anderen überlassen bleiben, etwa dem israelischen Universalhistoriker Yuval Noah Harari.
Hier sei nur eine kleine Hypothese gestattet. Für Europa und die USA darf man vielleicht von einer Dialektik der Aufklärung sprechen. Nie in der Geschichte der Medizin ist ein Impfstoff gegen ein Virus so schnell entwickelt worden wie gegen COVID-19. Früher noch als einige andere Firmen, die inzwischen gleichgezogen haben, stellten das deutsche Biontech-Unternehmen und die amerikanischen Pfizer-Werke ihn zur Verfügung, schon nach wenigen Monaten und mit durchschlagendem Erfolg: eine Sternstunde des menschlichen Geistes, die kein Anhänger des Fortschrittsgedankens sich schöner hätte ausmalen können.
Auf den beiden Kontinenten aber, die hier so beispielhaft zusammenarbeiten, gibt es Gegenbewegungen, die diese Sternstunde schnell wieder verdunkeln. Während das Virus sich ausbreitete, saß ein Präsident im Weißen Haus, dem es ein bizarres Vergnügen bereitete, sich völlig irrational zu verhalten. Trump verleugnete die Pandemie, und erschreckend ist nicht nur, dass er damit den Tod einer halben Million Amerikaner auf dem Gewissen hat, sondern auch, dass er bei den Wahlen trotz allem noch ein ernst zu nehmender Kandidat sein konnte. Die Irrationalität scheint eine Anziehungskraft auf die Massen zu haben, vor der wir nach der Geschichte des 20. Jahrhunderts eigentlich gewarnt sein sollten.
Trumps Wahnsinn äußerte sich in einem Zwang, alle Spielregeln des demokratischen Systems zu brechen, in Europa dagegen ist es umgekehrt. Die EU hält sich an ihre selbst gemachten Regeln, doch der Ausnahmezustand der Pandemie führt diese Regeln ad absurdum. In der Union scheint man indessen nicht in der Lage zu sein, sich aus ihnen zu befreien wie aus einem Korsett, in dem die Bürger zu ersticken drohen.
Die israelische Variante
Wie stichhaltig solche Hypothesen sind, mag dahingestellt bleiben. Zwischen den beiden Extremen eines völligen Regelbruchs und einer starren Regelhaftigkeit sollen sie auch nur die Skala der globalen Krise abstecken, auf der Israel zu verorten ist.
Der Ausnahmezustand, der jetzt zur internationalen Regel geworden ist, verschafft dem Staat der Juden einen gewissen Vorteil. Seit seiner Gründung vor 73 Jahren befindet er sich in einer Dauerkrise, denn immer hat er um seine Existenz kämpfen müssen. Die Israelis sind es gewöhnt, im Ausnahmezustand zu leben, und wenn sie improvisieren müssen – wenn es plötzlich darum geht, Millionen von Impfdosen ins Land zu bringen –, dann wissen sie nicht nur, wie man das macht, sie wissen auch, wie man mit diesen Dosen umgeht.
Es ist kein Zufall, dass Israel der „Weltmeister der Impfungen“ ist. Von neun Millionen Israelis sind fünf Millionen bereits geimpft, die mit Abstand höchste Rate, für die es in keinem anderen Land etwas Vergleichbares gibt. Das Bild, das sich abzeichnet, scheint also erfreulich zu sein, aber ist es auch wirklich so? Wenn alles so gut ist – warum gehen wir dann innerhalb von zwei Jahren schon zum vierten Mal zu den Wahlurnen?
Die Missstände in unserem Land sind aus den nicht immer sehr freundlichen Berichterstattungen zur Genüge bekannt, und ich brauche sie nicht zu rekapitulieren. Hier geht es mir nur um einige Strukturen, die die Vorgänge in Israel besser verständlich machen sollen, und wenn ich in Europa und Amerika eine Dialektik der Aufklärung auszumachen glaube, so gibt es eine ähnliche Dialektik auch in Israel: Die Stärke dieses Landes ist zugleich seine Schwäche.
Der Preis der Improvisation
1948 gründete David Ben Gurion ein Provisorium: Das Land, das sich seit dem Ende der britischen Mandatszeit „Israel“ nennt, schloss seinen Unabhängigkeitskrieg 1949 nicht mit einem Frieden ab, sondern mit einer Reihe von Waffenstillständen; zog auch später – 1956, 1967, 1973, 1982, zuletzt 2014 – immer wieder zu Felde; und veränderte dabei ständig seine Form: Bis heute hat Israel nach Osten hin keine geschlossene Grenze.
Nicht nur das Land veränderte sich, sondern auch seine Bevölkerung. Im Laufe der Jahrzehnte kamen unzählige Einwanderer – Überlebende der Schoa und Flüchtlinge aus arabischen Ländern, Juden aus Äthiopien und der ehemaligen Sowjetunion –, und es bildeten sich Gruppen, die nur schwer zu integrieren sind: neben einem erstaunlich produktiven Mittelstand eine geburtenstarke Ultraorthodoxie, deren Männer nicht ins Militär und deren Kinder nicht in die staatlichen Schulen gehen; eine Siedlerbewegung, die dem Staat seit Jahrzehnten ihre Interessen aufzwingt; und eine arabische Minderheit, deren Parlamentarier Israels Rechtsdrall nicht billigen können und daher nicht koalitionsfähig sind.
In der Politik des Landes trat Netanjahu erstmals an einem entscheidenden Wendepunkt auf: 1996, bald nach der Ermordung Jizchak Rabins, bildete er seine erste Regierung. Er hatte aber noch wenig Erfahrung und wurde schnell wieder abgewählt, denn der Wunsch nach Frieden, für den Rabin sein Leben gelassen hatte, war noch zu stark. Nacheinander versuchten Ehud Barak, Arik Scharon und Ehud Olmert ihr Glück. Keiner von ihnen gelangte ans Ziel, und 2009, als die Energie des Friedenslagers sich totgelaufen hatte, übernahm Netanjahu wieder die Regierung.
Seither hat er sie nicht mehr abgegeben. Seine Koalitionspartner kommen größtenteils aus dem nationalistischen Lager und lassen Gespräche mit den Palästinensern nicht zu. Der Friedensprozess ist in weite Ferne gerückt, und Netanjahu übt sich in der Politik der Machterhaltung.
Darin ist er ein Meister, und dass er dabei auch die Grauzonen der Legalität ausnutzt, darf uns nicht wundern. Seit langem steht er unter Korruptionsverdacht, die Staatsanwaltschaft eröffnet jetzt den Prozess gegen ihn – und wie, so fragt man sich, kann er unter diesen Umständen immer wieder als Kandidat der Regierungspartei in die Wahlen gehen?
Seit einem Jahrzehnt und länger manipuliert er die israelische Öffentlichkeit, und auch das darf uns nicht wundern. Die Manipulation ist Netanjahus Strategie der Selbsterhaltung, das allen längst bekannte Mittel seiner Politik. Mit mechanischer Eintönigkeit setzt er es ein, und hierin besteht das Skandalon: in der traurigen Tatsache, dass wir uns immer wieder von ihm manipulieren lassen.
So zahlt die israelische Gesellschaft den Preis der Improvisation. Es ist uns bisher nicht gelungen, auf der Skala zwischen Regelbruch und Regelhaftigkeit den Ort zu bestimmen, der für uns alle verbindlich ist, und einem Manipulator öffnen sich hier Tür und Tor.
Ein nüchterner Ausblick
Aber Dialektik wirkt in beide Richtungen. Manipulatoren sind gute Beobachter, sie rechnen voraus, und als sich abzuzeichnen begann, dass ein Impfstoff in Aussicht war, gehörte Netanjahu zu den ersten, die es begriffen. Er nahm persönlichen Kontakt mit Albert Bourla auf, dem Vorsitzenden des Pfizer-Konzerns, erwarb die nötige Anzahl von Impfdosen und wird jetzt nicht müde, das in seiner Wahlkampagne zu erwähnen.
Es ist ein Erfolg, den man durchaus anerkennen darf. Ob deshalb auch die Epidemie schon überwunden ist, wie Netanjahu es dieser Tage behauptet, muss freilich offenbleiben. Vor wenigen Wochen, als die Juden Purim feierten und zu befürchten war, dass die Maskenbälle zu Ansteckungsherden werden könnten, sprach er noch sehr anders, und Corona sollte kein politisches Theater sein, auf dem er als der Hauptdarsteller auftritt.
Wenn das Virus hoffentlich bald aus unserem Leben verschwunden ist, werden sich die Schäden zeigen, die es angerichtet hat – in der Wirtschaft, in den Schulen, in vielen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens. Mit Manipulationen werden sie nicht zu beheben sein.
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Ein Leben ohne Irrtümer gibt es nicht, weder im persönlichen noch im öffentlichen Bereich – in keinem Land der Welt, und auch in Israel nicht. Vieles hängt davon ab, wie schnell und wie gründlich wir aus unseren Irrtümern lernen. Erfahrungsgemäß darf man da nicht allzu optimistisch sein, aber auch die Hoffnung darf man nicht verlieren.
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© Jakob Hessing