Vor ungefähr sechs Jahren gründete ich das Jüdische Puppentheater Bubales. Ich wollte damit den Horizont der Berliner Kulturlandschaft in Sachen jüdischer Kultur erweitern. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, wie groß die Nachfrage nach ‚jüdischen Puppen‘ über die Berliner Grenzen hinaus war.
Mittlerweile toure ich regelmäßig mit den Bubales quer durch die gesamte BRD. Zu den Reisezielen gelangen ich und die selbstgenähten Puppen mit Kombi-Taxis, der Deutschen Bahn, und einmal wurde ich sogar mit einer Pferdekutsche von einem Provinzbahnhof abgeholt.
Ich stamme aus einer sephardischen Familie aus Istanbul. Vielleicht fühle ich mich deshalb in Berlin-Kreuzberg am besten aufgehoben. Die meiste Zeit, die ich in Deutschland lebe, habe ich hier verbracht. Bis vor sechs Jahren verließ ich Berlin bevorzugt mit dem Flugzeug, und mein Wunsch-Reiseziel befand sich außerhalb von Deutschland. Erst seit ich mit meinen Bubales so viel unterwegs bin, habe ich Deutschland von ganz neuen Seiten kennengelernt. Eigentlich bin ich ein sehr offener Mensch. Jedenfalls muss ich etwas an mir haben, das die Menschen dazu einlädt, mir in kürzester Zeit tiefe Einblicke in ihre Lebens- und Vorstellungswelten zu gewähren. Ich drang auf meinen Reisen in ‚deutsche Räume‘ vor, die nie ein ‚Mentsch‘ mit Migrationshintergrund zuvor gesehen hat.
Es waren Begegnungen, die mir vor Lachen Tränen in die Augen trieben, aber manchmal wollte ich auch vor Wut nur schreien. Ich verarbeitete diese Erlebnisse, indem ich alles direkt im Zug schriftlich dokumentierte. Entstanden ist daraus ein Potpourri aus skurrilen Kurzgeschichten. Mittlerweile haben meine Kurzgeschichten schon über 1.000 Follower auf Facebook, und ich werde ständig gefragt, wann ein Buch herauskommt. Zwei meiner Lieblingsgeschichten erlebte ich ausgerechnet in Berlin und die möchte ich hier erzählen.
Die erste Geschichte schildert den Verlauf einer Taxifahrt vom Hauptbahnhof zum Jüdischen Museum. Als der weiß-deutsche Taxifahrer mittleren Alters hörte, dass ich zum Jüdischen Museum will, war sein erster Kommentar: „Oh Scheiße!“ Es folgten Erläuterungen wie „Israelisch, jüdisch - alles der gleiche Ärger!“ und Worte wie „Kriegervolk“. Dann blickte mich der Taxifahrer durch den Rückspiegel an und sagte: „Sie sind doch auch so eine Isra-äl-itin, wa? Ach, ick will’s lieber nicht wissen!“
Jetzt fing der Spaß für mich an. „Was sind eigentlich Sie für einer? Sie sehen auch nicht deutsch aus!“ Der Taxifahrerversicherte hartnäckig, dass er „durch und durch Deutscha“ sei.
Ich erwiderte: „Sicher? Also für einen Deutschen haben Sie eine ganz schön große Nase! Ich finde, dass Sie ganz schön jüdisch aussehen!“ Nach einem fassungslosen Schweigen stammelte der Taxifahrer: „Ick dachte, so was darf man nicht sajen?“
Ich beruhigte ihn grinsend: „Ja schon, aber wir, unter uns Juden, dürfen das schon!“ „Ick bin aber kein Jude!“ „Na, ich weiß nicht...“, antwortete ich ihm, „wenn ich Sie mir so vom Profil anschaue...“.
Er schien nachzudenken. Dann schoss er raus „Mein Opa kam aus Polen!“ Ich klatschte in die Hände: „Aha! Da haben wir’s!“ Er konterte schnell: „Ja, aber deutscha Pole!“
Ich schaute ihn skeptisch durch den Spiegel an: „Glaub ich nicht! Da haben sich doch alle durchmischt. Wissen Sie, wie viele Juden dort vor dem Krieg lebten?“
Den Rest der Fahrt überließ ich den Taxifahrer seinem stummen Grübeln.
Die zweite Geschichte ereignete sich im U-Bahnhof Friedrichstraße. Verzweifelt versuchte ich, meine Bubales-Kisten in die U-Bahn zu heben, als hinter mir jemand erst auf Arabisch und dann auf Deutsch schimpfte: „Los Du Missgeburt! Hilf der Lady!“
Ich drehte mich um und sah zwei junge Männer: Trainingsanzug, Goldkette, schwarze Locken, die geölt nach hintengekämmt waren. Sie hoben die Bubales-Kisten mit einem Ruck in den Zug. In der U-Bahn starrten beide neugierig aufdie Kisten.
„Was ist denn da drin, Schwesta?“, fragte der kleine Dünne. Er war offensichtlich der Boss von den beiden. Ich lächelte. „Etwas, das Spaß macht!“ Der große Dicke fing an zu raten: „Gras?“ Ich schüttelte den Kopf. Der kleine Dünne: „Koks?“
Der Dicke kicherte. Nicht wenige Passagiere warfen uns böse Blicke zu. Ein wohlbeleibter, blonder Mittvierziger schaute die Jungs besonders verachtungsvoll an.
Plötzlich fauchte der kleine Dünne den Mittvierziger an: „Ej guck nisch so Alta! Isch bin BRUST-GRABSCH-ALI! Isch grabsch’ alle! Disch auch, wenn’s sein muss!“
Geräusche des Entsetzens und Kicherns durchstreiften den Wagen. Der Mittvierziger tätschelte verunsichert seine Brust.
Der kleine Dünne, also Brustgrabsch-Ali: „Okay, hast Du Waffen drin, Schwesta?“
Jetzt musste auch ich anfangen zu lachen. Die Blicke um uns wurden immer finsterer.
Brustgrabsch-Ali: „Na sag schon, Lady! Was ist drin!“
Ich sagte zögernd: „Wenn ich es sage, dürft ihr nicht lachen! Versprochen?“ Brustgrabsch-Ali legte die Hand auf die Brust „Ick schwöre, Sista!“ Der Dicke hob ehrfürchtig seine rechte Hand hoch. „Isch auch!“
Ich holte tief Luft und stieß es wie ein Husten heraus „Es ist ein jüdisches Puppen-Theater“.
Ein Moment des Schweigens folgte. Beide kauten nachdenklich auf ihren Kaugummis. Dann brachen sie in schallendes Lachen aus. Ich lachte mit (mit Schweiß auf der Stirn).
Brustgrabsch-Ali: „Das toppt alles, was wir geraten haben!“
Ich sah die beiden fragend an: „Wieso? Habt ihr was gegen Juden?“
Der dicke: „Nö, aber gegen Puppen!“ Beide klopften sich lachend auf die Schenkel.
Ich suchte weiter nach dem Gespräch. „Ihr hattet versprochen, nicht zu lachen.“
Brustgrabsch-Ali keuchte: „Ej sorry, Lady! Aber das ist für uns zu hoch!"
Ich zuckte zusammen. „Mist! Wie komme ich hier raus? Der Wagen ist zu voll.“
Brustgrabsch-Ali raunte mir mit angehobenen Augenbraue zu: „Kein Problem Lady! Du fährst mit Brustgrabsch-Ali!“
Er drehte sich zur Menschenmenge und brüllte plötzlich so laut, dass ich fast umfiel: „OKAY IHR SÜß-KARTOFFELN! ALLE AUS DEM WEG! HIER KOMMT EINE JÜDISCHE PUPPENSPIELERIN, DIE AUSSTEIGEN WILL!“ Er wedelte mit seiner Hand vor den Leuten „JALLAH! JALLAH! ALLE ZUR SEITE! Bzzzzz!!!“
Die Leute schoben sich zögernd zur Seite und schauten sich irritiert an. Der Zug fuhr in der Kochstraße ein, Brustgrabsch-Ali und sein dicker Freund schleppten die Bubales-Kisten raus und sprangen wieder auf den Zug. Ich drehte mich um, die Tür des überfüllten Zuges schloss sich, die Menschen verteilten sich wieder im Waggon, Brustgrabsch-Ali und sein dicker Freund wurden an die Tür gequetscht und grinsten frech durch das Fenster. Das Letzte, was ich sah, war Brustgrabsch-Alis angehobene Augenbraue.
Ursprünglich wollte ich mit meinen Bubales-Touren Deutschland ein kleines Stückchen ‚Jiddischkeit‘ zurückgeben, was es vor über 70 Jahren verloren hat. Dafür bekam ich einen tiefen Einblick in das Land, das ich noch immer nicht meine Heimat nennen kann oder will. Aber ich weiß jetzt zumindest, dass es kein langweiliges Land ist. Das ist doch schonmal ein Anfang.
© Shlomit Tripp-Tulgan, 2018
Dieser Text erschien erstmals in JALTA – Positionen zur jüdischen Gegenwart, Ausgabe No. 04 – 2/2018 im Neofelis Verlag, mit freundlicher Genehmigung.
Shlomit Tripp studierte, nach ihrer Jewish-Educator-Ausbildung in Jerusalem, Kunstpädagogik an der UDK-Berlin. Sie stammt aus einer sephardischen Familie in Istanbul, wurde in Berlin-Charlottenburg geboren, verbrachte aufgrund der journalistischen Arbeit ihrer Eltern, ihre gesamte Schulzeit in Prag und Moskau. Sie publizierte zahlreiche Kinderbücher zu interkulturellen und jüdischen Themen. Seit 2008 konzipiert sie die Community Programme für das Jüdische Museum Berlin. Nebenberuflich leitet sie das jüdische und interkulturelle Puppentheater bubales.