Liebe Freundinnen und Freunde des Jüdischen Salons am Grindel,
in wenigen Tagen feiern die Juden Pessach, das mit den beiden Seder-Abenden beginnt, an denen aus der Haggada die Geschichte des Auszugs der Juden aus Ägypten vorgelesen wird. Auch die Oster-Tage stehen vor der Tür, der 1. Seder-Abend fällt dieses Jahr auf den Karfreitag. Viele Menschen sehnen sich danach, nach zwei Jahren der Kontaktbeschränkungen die Feiertage wieder im Kreis von Familie und Freunden zu verbringen.
Wir sind in Gedanken bei all den Menschen, denen das aus einer Vielzahl von Gründen nicht möglich sein wird. Sei es, weil sie in der Ukraine kämpfen, auf der Flucht sind oder in Haft, weil sie gegen das Putin-Regime protestiert haben oder, weil sie krank sind.
Wir möchten Ihnen aus Anlass der beiden Feiertage einen für uns geschriebenen Text des Autors Alexander Estis zusenden. Estis entstammt einer russisch-jüdischen Familie aus Moskau, die 1996 nach Hamburg übersiedelt ist. Vor einigen Jahren ist er in die Schweiz umgezogen. Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine nutzt er seine Sprach- und Ortskenntnisse, um unermüdlich Anfragen von Geflüchteten sowohl aus der Ukraine wie auch aus Russland zu beantworten und/oder an entsprechende Stellen weiterzuleiten.
Gleichzeitig übersetzt er Einschätzungen und Beschreibungen des Kriegsverlaufs von Menschen, die er in der Ukraine und in den umliegenden Ländern kennt und schrieb eigene Texte zur Situation für Medien in der Schweiz und Deutschland. Wir freuen uns wirklich sehr, dass er die Zeit gefunden hat, auch für uns einen Text zu verfassen.
Wir wünschen Ihnen allen erst einmal ein koscheres Pessach oder frohe, erholsame Ostertage und eine anregende Lektüre.
Alexander Estis
Es hätte genügt
Wir waren Sklaven. Wir waren Sklaven unserer Geschichte. Wir sind Sklaven unserer Erinnerung, und werden es immer sein.
Ich frage meine Erinnerung: Willst du unbewegter Fels bleiben, lebloser Stein, feste Gewißheit? Willst du am Grund des Brunnens als Silbermünze glänzen, als fliehender Zweifel? Oder als letzte Ausflucht, als letzter Mantelknopf dich verbergen auf dem Boden eines Gefäßes, einer tönernen Vase?
Vielleicht willst du das Gewebe durchwirken zwischen den schwieligen Fingern des Schneiders oder vielleicht willst du als Kreisel dich drehen im Spiel eines Kindes? Oder willst du das Lispeln eines fahlen Lichts sein, einer flackernden Flamme über den Blättern der Schrift? Oder willst du der Ton sein sich verfinsternder Tinte? Das Flehen eines kaum vernehmbaren Gebets? Ein Chor vielstimmigen Jammers? Oder Asche in meinem Haar?
Mein Großvater, der Eli, Eli (1) singt: weniger ein Gesang denn ein Wehruf. In fayer un flam hat man uns gebrent. Eli, Eli, lomo asavtoni, erher meyn gebet, erher meyn geweyn, helfn kenstu nur aleyn. Shma Isroel, Adonai Eloheinu, Adonai ekhod. (2) Ich höre zu, aber vielleicht bin ich gar nicht da; vielleicht hat nicht Großvater als einziger, vielleicht hat niemand von ihnen überlebt, vielleicht wurde ich nicht geboren, vielleicht sind wir nur Schatten und Schein.
Mein Großvater ist Hiob; er streitet mit Gott darüber, daß es Gott nicht geben kann. Wenn sie alle fort sind, wie kann es Gott geben? Ich, vierjährig, versuche ihn zu überzeugen: Großvater, Gott ist in uns allen, schreibe ich ihm auf eine linierte Karte in riesigen ungelenken Lettern. Damals wußte ich nicht, wie viele Tränen in den Buchstaben liegen; damals glaubte ich. Die Karte ist noch da, Großvater nicht.
Meine Mutter, wie sie mir zum Einschlafen Oyfn Pripetshek (3) singt.
Vet ir kinderlekh elter vern, vet ir aleyn farshteyn, wifil in di oysyes lign trern un wifil geweyn. (4) Vielleicht weil die Buchstaben der Schrift auch Zahlen sind. Ein Freund hat einmal ein Buch gemacht, einen riesigen Band, in dem nichts als Zahlen sind, sechs Millionen Zahlen. Schischa mi jodea? (5) Ich kenne sechs.
Mein Vater, der mit sechzig versucht, Deutsch zu lernen, und statt dessen plötzlich anfängt, Jiddisch zu sprechen: Ikh red nisht kein daytsh, farshteyst? (6) Im ukrainischen Schtetl konnten auch die Gojim Jiddisch. Man schimpfte mit grosser gonnef, otsem-potsem, a goyishe kop, a groyser molodets (7) oder sagte einfach gey wayter kakn! Man lobte mit sheyne yingele, likhte punem, a yiddishe kop (8) und wieder mit a groyser molodets.
Beim Trinken prostete man sich den bescheidenen Wunsch zu:
Lomir iberlebn dos yor. (9)
Mein Vater, wie er mir vom Schtetl erzählt. Großvater Nisl, balagule, Kutscher. Großmutter Tabl, Hausfrau. Der andere Großvater, Leybisch, Stellmacher. Großonkel Idl, Schuster. Großonkel Avrum, Glaser. Onkel Mendel, Schneider. Onkel Schimon, Geschäftemacher. Wo er Geschäfte machte, auf dem alten Marktplatz, haben die Deutschen 1942 das Ghetto eingerichtet. Dort starben mehr als elf Tausend. Tate, ich will bay dir frogn elf toysnt kashijes. (10)
Zuvor, 1941, eine Kiewer Nacht: Ma nischtana ha-layla hase? (11) Mein Vater flieht mit seiner Mutter und seiner Schwester vor dem Bombenhagel, mit dem Zug nach Sibirien. Jetzt, 2022, eine Kiewer Nacht: Ma nischtana ha-layla hase? Die Enkelin dieser Schwester, meine Nichte, flieht vor dem Bombenhagel, mit dem Zug nach Rumänien. Dajeinu (12): Einmal hätte genügt.
Alle Welt redet von Identität. Aber ich weiß nicht, was das ist, Identität. Im Schtetl hieße ich eigentlich Shloymo, zu Ehren meines Großvaters, aber ich bin in Moskau geboren, und so nannte man mich Sascha, was zumindest eine entfernte Ähnlichkeit damit hat. Aber auf Deutsch, mit dem stimmhaften S, klingt es mir selbst fremd, daher lasse ich mich Alex nennen. In Rußland, wo ich herkomme, war ich ein Jude. In Deutschland, wohin ich ausgewandert bin, bin ich ein Russe. In der Schweiz, wo ich lebe, bin ich ein Deutscher. Vielleicht ist Identität etwas, das sich nicht summiert, sondern subtrahiert. Wir sind Nichtrussen, Nichtukrainer, Nichtdeutsche sowieso.
Es ist wie in diesem Spiel, in dem man aus einem Holzturm einzelne Steine herauszieht, bist er umfällt. Und am Ende – was bleibt? Ruinen und die Erinnerung. In der Erinnerung bin ich Ukrainer, bin ich Russe, bin ich Shloymo. Ich bin Nisl, Tabl, Leybisch, Idl, Avrum, Mendel, Schimon und all die andern.
Die wenigen von ihnen, die überlebt haben, die wenigen, die noch am Leben sind, deren wenige Söhne, Töchter, Enkel, Nichten – die nun also auch noch? Es hätte genügt. Einmal hätte genügt. Eli, Eli, lomo asavtoni?
So viel Tränen liegen in den Buchstaben. Das hier ist weniger ein Bericht denn ein Wehruf. Ich, fünfunddreißigjährig, versuche mich zu überzeugen, daß die Welt besser wäre, wenn es Gott gäbe.
Wir sind Sklaven unserer Erinnerung, aber ohne Erinnerung sind wir Schatten und Asche und Schein. Doch die Erinnerung hätte genügt. Lomir iberlebn dos yor.
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(1) Herr, Herr. Ein Lied, das den ersten Vers des 22. Psalms aufgreift (»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«) sowie daneben das Gebet Schma Jisrael.
(2) »In Feuer und Flammen hat man uns verbrannt. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Erhöre mein Gebet, erhöre mein Flehen, helfen kannst nur du allein. Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig.« (Der Text wird hier verkürzt und leicht abgewandelt wiedergegeben.)
(3) »Auf dem Herd (brennt ein Lichtlein).«
(4) »Wenn ihr, Kinder, älter werdet, werdet ihr selbst verstehen, wie viele Tränen in den Buchstaben liegen und wie viele Klagen.«
(5) »Wer kennt sechs?« Aus dem Pessach-Lied Echad mi jodea (»Wer kennt eins«), ein traditionelles Pijut, eine liturgische Dichtung, die gegen Ende der Pessach-Haggada in der Seder-Nacht vorgetragen wird.
(6) »Ich rede kein Deutsch, verstehst du?«
(7) »Großer Ganove, Potz, gojischer Kopf, ein ganz Toller.«
(8) »Schöner Junge, helles Antlitz, jüdischer Kopf.«
(9) »Laßt uns das Jahr überleben!«
(10) »Vater, ich will dir elftausend Fragen stellen.« Nach den einleitenden Worten zum Pessach-Lied Ma Nischtana: Die Pessach-Haggada beginnt mit dem zentralen Teil der »Arba kuschjot« (vier Fragen des Sohnes an den Vater), mit denen die Geschichte vom Auszug aus Ägypten an die kommende Generation weitergegeben wird.
(11) »Was unterscheidet diese Nacht (von allen anderen Nächten)?« Beginn des Pessach-Liedes Ma Nischtana (aus dem Anfang der Pessach-Haggada).
(12) »Es hätte uns genügt«, Titel und Refrain eines Pessach-Liedes, ein hebräisches Pijut, eine liturgische Dichtung, die traditionell in der Seder-Nacht rezitiert wird.
© Alexander Estis 2022
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Alexander Estis wurde 1986 in einer jüdischen, teils aus der Ukraine stammenden Künstlerfamilie in Moskau geboren; hier erhielt er eine Ausbildung an Kunstschulen und bei Moskauer Künstlern. 1996 siedelte er mit seinen Eltern nach Hamburg über. Nach Abschluß des Studiums in deutscher und lateinischer Philologie arbeitete er als Dozent für deutsche Sprache und Literatur an verschiedenen Universitäten in Deutschland und der Schweiz, wo er seit 2016 als freier Autor lebt. Er arbeitet vorwiegend in literarischen Kleinformen; besonderes Kennzeichen seiner Arbeit ist – neben stilistischer Diversität – die Verschmelzung von Satire und Ernst, von Essayistik und Belletristik, von prosaischer und metrischer Form sowie von Wort und Bild.
Seine Texte werden in Anthologien und Zeitschriften (u.a. Sinn und Form, Lichtungen, Entwürfe) publiziert; außerdem verfaßt er Essays, Glossen und Kolumnen (u.a. für Die Zeit, Deutschlandfunk Kultur, NZZ, Tagesanzeiger, Neues Deutschland). 2021 erschien bei der Parasitenpresse Köln sein Kurzprosaband »Handwörterbuch der russischen Seele«. Alexander Estis ist Mitglied der Vereinigung Autorinnen und Autoren der Schweiz und des Exil-P.E.N. Für seine Texte erhielt er mehrfach Auszeichnungen und Stipendien, darunter den Rolf-Bossert-Gedächtnispreis. Derzeit ist er Stadtschreiber in Köln.