In der 4b gab es noch einen anderen jüdischen Schüler, der wie ich nicht am katholischen Religionsunterricht teilnehmen musste. Ich konnte Edwin nicht besonders leiden, denn er ließ mich nicht mit seinen tollen Spielsachen, vor allen mit dem fernlenkbaren Feuerwehrauto spielen, wenn mich seine Mutter zu den Bergs einlud. Mir missfiel auch, dass er eine Heulsuse war. Herr Walk rief Edwin, der schlecht im Rechnen war, an die Tafel und führte uns seine Unfähigkeit vor, bis der begann zu heulen. Daraufhin bemerkte der Lehrer schmunzelnd. „Du wirst es schwer haben im Leben, Berg, wenn du nicht mal im Stande bist zu rechnen, um deine deutschen Kunden zu übervorteilen. Nimm dir ein Beispiel an Seligmann, der kann zwar nicht schreiben und lesen, aber rechnen kann er.“ Die Mitschüler jauchzten vor Vergnügen. Das ließ Edwin noch mehr weinen und auch ich war wütend. Denn durch seine Dummheit und seine Flennerei machte er auch mich lächerlich.
Nach dem Unterricht fingen einige Mitschüler „die Heulsuse“ ab und brachten ihn durch Schläge erneut zum Weinen. Nach kurzem Zögern sprang ich ihm bei. Denn er tat mir leid, besonders als er die Hände vors Gesicht hielt, statt sich zu wehren. Zudem hatte Ima mir gesagt, als Juden müssten Edwin und ich zusammenhalten. Da tauchte Frau Berg auf und mahnte die Schläger, von ihrem Edwin abzulassen, mit dem sie sich flugs davon machte. Daraufhin richtete sich die geballte Wut der Schläger gegen mich. Mir wurde ein Taschentuch in den Mund gesteckt, anschließend wurde ich nach Strich und Faden verprügelt. Als ich bereits am Boden lag, steckte ich noch einige Tritte ein. Dann hatten die Raufbolde genug. „Des dreckete Taschentuch derfst behalten“, rief einer. Dann zogen die Schläger ab.
Die Nazibrut hatte Rafi zugerichtet wie ihre SA-Väter einst die Juden. Aber die Zeiten waren vorbei, in denen wir die Pogrome des Antisemitenpacks wehrlos hinzunehmen bereit waren. Da Ludwig wieder nicht da war, ging ich stehenden Fußes alleine zum Schulleiter. Der Goj wollte mich nicht außerhalb seiner Sprechstunde empfangen. Doch ich bestand darauf, mit ihm auf der Stelle zu reden. Der Stoffel bot mir dabei nicht einmal einen Stuhl an. Den brauchte ich auch nicht. „Herr Petzold. Ich erlaube nicht, dass mein Kind von Ihrem antisemitischen Pack malträtiert wird! Wenn Rafael noch einmal in ihrer Anstalt ein Haar gekrümmt wird, dann zeige ich Sie an und werde nicht ruhen, bis man Sie bestraft!“ Sein Teint lief violett an, als er mich anbrüllte: „Hinaus aus meinem Büro! Nehmen Sie Ihren Zuckerknaben und verschwinden Sie wieder nach Palästina! Auf der Stelle!“
Nachdem ich mich in der Israelitischen Kultusgemeinde in der nahegelegenen Reichenbachstraße nach dem obersten Leiter der Münchener Schulen erkundigt hatte, begab ich mich ins Stadtschulreferat. Dass Dr. Fingerles Terminkalender auf Wochen hinaus belegt war, wie mir seine Sekretärin versicherte, hinderte mich nicht, trotz ihres Protests in das Büro des Schulchefs zu gehen. Der blasse Mann mit streng gescheiteltem grauem Haar saß hinter einem gediegenem mit Akten überladenen Schreibtisch. Er sah mich durch dicke Brillengläser überrascht an, als ich ohne Aufforderung sprach. „Herr Dr. Fingerle, mein Name ist Seligmann. Wir sind vor wenigen Wochen aus Israel nach München gekommen. Mein Sohn Rafael geht hier zur Schule. Er ist dort brutal geschlagen worden. Als ich mich darüber beschwerte, hat mich der Direktor hinausgeworfen und gesagt, ich sollte mit meinem Kind nach Palästina verschwinden.“ Ich sprach mit ruhiger Stimme, doch mein Herz schlug mir bis zum Hals. Fingerle sprang auf und bot mir einen Stuhl an. „Danke, dass Sie zu mir gekommen sind, Frau Seligmann. Unsere jüdischen Mitbürger sind uns hoch willkommen. Ich dulde solche Vorfälle nicht! Das Verhalten des Schulleiters ist empörend und wird strenge Konsequenzen zeitigen. Um welche Schule handelt es sich bitte?“ Herr Doktor Fingerle ließ sich umgehend mit dem Kerl verbinden und gab ihm vor meinen Augen ordentlich Bescheid. „Sie haben wohl nicht begriffen, dass wir in einem demokratischen Staat leben?! Wenn mir noch das kleinste derartige Vergehen aus Ihrer Anstalt gemeldet wird, werde ich Sie umgehend vom Dienst freistellen. Ich verlange, dass Sie sich bei Frau Seligmann entschuldigen und dass die Schläger gehörig bestraft werden!“ Dr. Fingerle brachte mich hinaus und versicherte mir, dass ich fortan unbesorgt in München leben und mein Rafi die Schule besuchen könne. Er drückte mir die Hand forderte mich auf, nicht zu zögern, ihn persönlich zu unterrichten, falls ich Grund zur Beschwerde hätte. Doch er sei überzeugt, dass sich in Zukunft nichts Derartiges wiederholen würde.
Als ich Rafi nach der Schule von meinem Besuch beim Stadtschulrat und von dessen Worten erzählte, machte er ein betretenes Gesicht. Warum? „Weil man Petzer hasst. In Herzliya und sicher auch in München.“
„Sollen sie dich ruhig hassen, Rafi. Hauptsache, sie haben Angst vor uns. Auf Antisemiten darf man keine Rücksicht nehmen!“ Rafi sah mich skeptisch an. „Der Edwin ist Jude, aber eine Heulsuse.“
Wir hatten kaum Platz genommen, als energisch gegen die Tür gepocht wurde. Unser Türöffner Fritz, dem eine Aufgabe oblag, die in Israel unbekannt war, eilte nach vorn, doch noch ehe er die Tür aufmachten konnte, wurde diese aufgerissen. Fritzi rief dem ins Zimmer stürmenden Direktor ein „Grüß Gott, Herr…“ entgegen, da schlug dieser ihm eine Backpfeife und stürmte auf den Lehrer zu. Dessen Befehl: „Aufstehen!“ befolgten wir umgehend. Doch der Schulleiter legte jetzt auf diese deutsche Respektbezeugung keinen Wert, sondern raunzte Walk an: „Halten Sie den Mund! Nach zwanzig Jahren im Schuldienst kennen Sie Ihre Pflichten noch immer nicht. Als Klassenlehrer tragen Sie uneingeschränkte Verantwortung für Ihre Schüler. Stattdessen lassen Sie zu, dass Ihre Judenbuben von ihren Mitschülern durchgehauen werden! Sie glauben wohl, Sie leben noch im Dritten Reich? Die Zeiten sind vorbei! Eine Mutter hat Sie denunziert! Wenn mir nochmals das Kleinste in dieser Richtung zu Ohren kommt, entferne ich Sie unverzüglich aus dem Amt!“ Der Tobende machte einen Schritt auf den Zusammengescholtenen vor ihm zu, sein Gebrüll steigernd: „Haben Sie mich verstanden, Walk?!“
„Jawohl, Herr Direktor!“
„Das will ich für Sie hoffen!“ Der Schulleiter machte auf dem Absatz kehrt und jagte davon ohne dass Fritzi, der sich seine flammende Wange hielt, ihm die Abschiedsreferenz erweisen konnte. Walk brauchte eine Weile, ehe er seinen Schreck soweit überwunden hatte, dass er seinerseits wieder brüllfähig war. „Wer von euch hat die Judenknaben angefasst? Sagt’s lieber gleich, ich krieg’s ja doch raus! Dann hilft euch kein Gott. Dem brech’ ich das Genick!“ Keiner war dumm genug, sich selbst zu verraten. Die Jungen schwiegen trotzig. „Setzen!“ Walk ging mit durchdringendem Blick durch die Bänke. Da niemand schwach wurde, kehrte der Pädagoge wieder aufs Katheder zurück. Nach einem Moment der Besinnung trat Walk vor meinen jüdischen Mitschüler und sprach mit einschmeichelnder Stimme: „Sag mal, Berg? Wer von deinen garstigen Klassenkameraden hat euch geschunden?“
Edwin blickte nach unten und hütete sich, ein Wort zu sagen. „Wer, verflucht noch mal?“ fuhr Walk auf. „Ich mache das nur, um dich zu schützen! Und du schweigst verstockt!“ Edwin konnte zwar nicht mit Zahlen rechnen, doch mit Racheakten durchaus. „Ich weiß es nicht genau ...“
„Dann sag’s ungenau!“
„Es ging so schnell ... ich hab’ alles vergessen.“
„Keine zehn Jahre alt und schon verkalkt und vertrottelt.“ Mit einem „Maul halten!“ brachte Walk das aufglucksende Gelächter zum Schweigen und wandte sich mir zu.
„Und du, Seligmann, du israelischer Held, hast sicher auch alles vergessen, was?“ „Nein! Es waren der Girl, der Schober und der Kogl.“ Stille. Ich hatte ebenfalls den Mund halten wollen, da ich wusste wie verhasst Verräter waren und was ihnen blühte. Doch als Walk mich als israelischen Helden lächerlich machte, war mir alles egal. Sollten sie mich wieder hauen. Ein Feigling war ich nicht. Derweil lachte unser Pauker auf. „Na, du traust dich was, Seligmann“. Er wandte sich zum Klassenkörper um und brüllte: „Lumpenpack, saudummes. Ich habe euch gewarnt! Erst die zarten Judenjungen versohlen und dann zu feige sein, zu seinen Taten zu stehen. Und zu blöd. Denn jede Kette reißt an ihrem schwächsten Glied. Das ist heute der Seligmann gewesen. Dank seines Verrats werde ich die drei hirnlosen Verbrecher so durchhauen, dass sie ihr Leben lang daran schmerzhaft denken werden.“ Walk besah die übrigen Schüler. „Und ihr Deppen müsst net so dumm grinsen. Beim nächsten Mal … es darf kein nächstes Mal geben, Himmelsakrament! … schlag ich euch so, dass ihr ins Lazarett müsst!“ Ich fürchtete, nun von meinen Quälgeistern erneut abgerieben zu werden.
Der Schultag ging zu Ende, ohne dass Walk seine Drohung wahr machte. Bei Unterrichtsschluss, als die Schüler das Klassenzimmer verließen, gebot Walk den Schlägern, da zu bleiben. Ich verharrte auf meinem Platz. „Warum gehst du nicht nach Hause, Seligmann?“, wollte der Lehrer wissen. „Weil ich sehen will, dass Sie die Buben schlagen.“ Der Lehrer blickte mich ungläubig an, ehe er mir langsam antwortete: „Eines muss man dir Israelbengel lassen, du bist aus anderem Holz geschnitzt als der Edwin und die anderen Judenbuben, die unter uns wohnen.“
Aus: Rafael Seligmann, Trau Dir alles zu!
© Erscheint im Frühjahr 2022 im Langen Müller Verlag
Foto: © Rafael Seligmann